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Near-Death: Der Dragon-King

Aktualisiert: 18. Apr. 2022

Neben den in meinen letzten Beiträgen besprochenen "Einhörnern" und "Zombies" existieren weitere Fabelwesen im Risiko-Management. In diesem Beitrag möchte ich über eine besonders üble Sorte sprechen: Den Dragon-King.

Es fällt mir schwer, über Dragon-Kings zu schreiben, ohne über mathematische Feinheiten, Potenzgesetze, nichtlineare Systeme und Bifurkationsdiagramme zu reden. Daher möchte ich mich direkt dafür entschuldigen, dass die folgenden Ausführungen stark oberflächlich und mathematisch enorm vereinfacht werden; für das praktische Verständnis ist das gewählte Vorgehen wohl besser und vermutlich angenehmer.


Ich fange einfach an: Sie erinnern sich bestimmt an eine beliebige Statistik-Vorlesung im Studium. Dort wurde das Thema "Ausreißer" auf eine bestimmt sehr langweilige Art und Weise erklärt (das haben Statistik Vorlesungen häufig so an sich). Ausreißer wurden dort bezeichnet als Werte, die auffallend größer sind als die anderen Beobachtungen. Häufig wird dann auch empfohlen, dass diese von der Analyse gänzlich ausgeschlossen werden sollten. Dies ist meines Erachtens ein Fehler, Ausreißer sollten eine besondere Beachtung bekommen. Dragon-Kings sind nämlich solche Ausreißer; sie sind super extreme Ereignisse und deshalb besonders interessant, da sie dramatische Auswirkungen und eine enorme Vernichtungskraft haben. Glücklicherweise sind Dragon Kings auch enorm selten.


Solche extremen Ereignisse gibt es in vielen Kontexten, besonders anschaulich kann man es anhand von Monster-Wellen auf dem Ozean erklären. Über 99,999% der Wellen sind klein und lange Zeit ging man davon aus, dass Wellen eine maximale Höhe von 15 Metern haben können; Schiffe wurden daher so ausgelegt, dass diese 17 Meter hohe Wellen überstehen würden. Heute weiß man, dass auch Dragon-King-Wellen mit einer Höhe von 35 Metern auftreten, die jedes Schiff zerstören würden.


Zum weiteren Verständnis schauen wir uns Sternschnuppen und deren größere Brüder an. Über 99,999% der Steine, die in unsere Atmosphäre kommen sind so groß wie Staubkörner und verglühen sofort beim Eintritt (Sternschnuppen). Ca. 5 mal im Jahr schlägt ein faustgroßer Stein sogar in unsere Erde ein (Meteroideneinschläge). Vor 66 Millionen jedoch tritt ein Dragon-King-Stein mit einem 10 km Durchmesser ein und vernichtet über 75% der Arten (Tiere und Pflanzen). Weitere Beispiele für Extremereignisse:

  • Seit den 1940er Jahren gab es eine zweistellige Anzahl von Störfällen, meist mit wenigen oder keinen Toten. Im Jahr 1986 explodiert der Tschernobyl-Atomreaktor, die Folgen sind über 1 Millionen Tote

  • Erdbeben sind häufig, alleine in Deutschland gibt es jährlich mehrere Hundert. Manche Erdbeben sind gewaltig: im Jahr 2004 sterben bei einem Erdbeben der Stärke 9,2 in Indonesien 230.000 Menschen.

  • Epidemien kommen in regelmäßigen Abständen (Ebola, Masern, Dengue-Fiebe, EHEC, etc.). Im 14 Jahrhundert tötet die Pest ein Drittel der Europäischen Bevölkerung (ca. 20 Millionen Tote), Corona hat bisher schon 6 Millionen Tote gefordert.

  • Insolvenzen sind ebenfalls häufig, alleine in Deutschland gab es 2021 ca. 14.000, meist mit kaum spürbaren Folgen für die Wirtschaft. Am 15.09.2008 bricht Lehman Brothers zusammen und verursacht einen gewaltigen Finanzmarkt-Crash, der die Welt in eine globale Rezession führt und nach Schätzungen der Commerzbank einen Schaden in Höhe von 10 Billionen Euro verursacht (Hinweis: diese unvorstellbare Summe würde ausreichen, um 20 Millionen Häuser à 500.000 Euro zu bauen. Nebeninfo: Deutschland hat 19 Millionen Wohngebäude).

  • Es gibt jährlich ca. 50 Vulkansausbrüche, meist ohne schlimmere Folgen. Der schlimmste Vulkanausbruch im 20. Jahrhundert war der Ausbruch des Pinatubo auf den Philippinen im Jahr 1991. Dieser hatte eine Wucht von mehreren Millionen Wasserstoffbomben (eine Wasserstoffbombe ist so stark wie 4000 Hiroshima-Atombomben). Vor ca. 1 Millionen Jahren gab es im Yellowstone Park in den USA einen Vulkanausbruch, der 250 mal stärker war als der Pinatubo.

Auch im unternehmerischen Kontext sind solche Dragon-Kings bekannt und sind im Fokus des Risikomanagements:

  • Kleinere Reputationsschäden sind für Unternehmen Normalität. Ein Reputationsschaden kann ein Dragon-King Ausmaß annehmen und das Unternehmen in den Abgrund stürzen. Beispiel: Northern Rock Bank.

  • Jedes Unternehmen hat jährlich mehrere Störungen im IT-Betrieb und können vom IT-Störungsmanagement einfach abgefangen werden; typischerweise ohne schlimme Auswirkungen. Ein Dragon-King Ausmaß kann aber durch eine Cyber-Attacke ausgelöst werden, welche den Betrieb für mehrere Tage vollständig blockiert und einen enormen Schaden auslöst.

  • Rechtsstreitigkeiten sind für Unternehmen häufig mit Kosten verbunden, die eher geringen Schmerz in der GuV auslösen. Im Rechtsstreit zwischen der Deutschen Bank und der Kirch-Gruppe (# Breuer-Interview) kommt es zu einer Dragon-King Zahlung: 900 Millionen Euro.

  • Eine Produktrücknahme aufgrund mangelhafter Ware ist für Unternehmen ein operatives Tagesgeschäft und eher wenig aufregend. Im Rahmen des VW-Abgasskandals kommen auf VW über 30 Milliarden Euro Kosten zu.

Solche folgenschweren Ereignisse können unternehmerische Nahtod-Erfahrungen sein und machen deutlich, wie wichtig die Untersuchung von Extremen ist. Sie werfen im Risikomanagement die wichtige Frage auf, wie mit solchen Risiken umzugehen ist. Das Problem: es existieren für jedes Unternehmen sehr viele theoretisch mögliche Extrem-Ereignisse. Auf der einen Seite, kann es nicht sinnvoll sein, sich gegen alle Abzusichern, insbesondere weil jedes einzelne Extrem-Ereignis eine sehr, sehr, sehr (Dreifach-Nennung ist Absicht) geringe Eintrittswahrscheinlichkeit hat. Daher wird diesen auch häufig wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Jedoch mahnt uns die Stochastik: da es viele von diesen theoretisch möglichen extremen Ereignissen gibt, ist die Eintrittswahrscheinlichkeit irgendeines Dragon-King nicht mehr so unwahrscheinlich.


Als Analogie sei Lotto genannt: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Person den Jackpot gewinnt, ist extrem klein: ca. 0,0000007 % (bzw. als Chance ausgedrückt: ca. 1 zu 140 Millionen). Da aber so viele Personen spielen (ca. 7 Millionen permanent und über 20 Millionen gelegentlich) ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendeine Person gewinnt nicht mehr so gering.


Dragon Kings sind verwandt mit den bekannten "schwarzen Schwänen", der Unterschied ist der, dass Dragon Kings zu einem gewissen Grad vorher erahnt werden können, da diese "schwache Signale" ausstrahlen. Dragon Kings werden daher auch gerne "graue Schwäne" genannt. Dragon-Kings haben nämlich eine gewisse Entstehungsgeschichte, die frühzeitig erkannt werden kann. Auch werden diese durch Kaskadeneffekte oder dem gemeinsamen Auftreten von Problemen hervorgerufen. Wie beispielsweise im Jahr 2011, als der kombinierte Eintritt eines Erdbebens, einem anschließendem Tsunami und einem Atomreaktor-Unglück in Fukushima und ganz Japan extreme Schäden hinterlassen haben.


Auch aktuell erleben wir den kombinierten Eintritt von mehreren Ereignissen. So sind als Folge der Krisen der letzten Zeit sehr viele Staaten hoch verschuldet. Dazu kommt die aktuelle Lieferkettenkrise, die Rohstoffpreiskrise, die Energiekrise, die derzeit hohe Inflation und ggf. zeitnah steigende Zinsen. Dieses gemeinsame Auftreten von Problemen könnte rein theoretisch zu einer Dragon-King Wirtschaftskrise führen.


Fazit: Extreme Ereignisse lehren uns eine Lektion in Demut, denn diese haben eine enorme Bedeutung für unser Leben, sei es im unternehmerischen Kontext oder privat. Es ist sinnvoll, sich mit extremen Ereignissen zu beschäftigen und der Frage nachzugehen, welche man davon aus einer Kosten/Nutzen Perspektive umgehen möchte: Manche davon lassen sich sehr einfach vermeiden, beispielsweise durch den Abschluss einer preiswerten Versicherung. Bei manch anderen sind Vermeidungsstrategien zu aufwendig und Unternehmen sollten bei diesen tatsächlich einfach auf Glück hoffen und das Risiko eingehen. Denn: Risikomanagement bedeutet nicht, Risiken zu minimieren.


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