Als Ökonom werden mir häufig sehr präzise Fragen gestellt. Ein paar Beispiele: Welche Aktie sollte ich kaufen? Wie geht es mit der Inflation weiter? Werden die Zinsen bald steigen? Haben wir eine Immobilienpreisblase? Soll ich in Kryptos einsteigen? Wie wird sich die Wirtschaft entwickeln?
Es wird dann erwartet, dass ich als Experte eine klare Aussage treffen kann. Das kann ich nicht. Das kann niemand. Wer auf solche Fragen eine klare Antwort hat, disqualifiziert sich schnell als Scharlatan.
Es ist mir auch klar, welche Hoffnung sich die fragende Person macht: Ausgehend von der Prognose, sollen Entscheidungen getroffen werden (z.B. Aktienkauf, etc.). Entscheidungen haben die Eigenschaft, dass ihr Erfolg mit der zukünftigen Entwicklung zusammenhängt. Es ist quasi eine Wette mit dem Zufall und man redet dann von Glück oder Pech. Ob eine Bitcoin-Investition, ein Job-Wechsel oder das Parken im Halteverbot "gut ausgehen" wird, kann aus heutiger Sicht nicht beantwortet werden. Doch man tappt nicht ganz im Dunkeln, wenn man über Entscheidungen sinniert; die Wahrscheinlichkeitstheorie kann uns in vielen Konstellationen zumindest helfen, die Zukunft überschaubar zu gestalten.
Wie auch immer: Jede Prognose über zukünftige Entwicklungen ist mit Vorsicht zu genießen! Es folgen ein paar anekdotische Beispiele:
Im Januar 2020 haben namhafte Experten die Dax-Rally im Jahr 2019 gelobt: +25%. Der Ausblick war nahezu einstimmig, dass es im Jahr 2020 ähnlich weitergehen wird. Dann geschah etwas Unvorhergesehenes: In China beißt wohl jemand in eine Fledermaus (oder so), ZACK, Weltwirtschaftskrise und über 6 Millionen Tote.
Die Inflation wurde von den wichtigen Instanzen (EZB, Bundesregierung) falsch pronostiziert. Aktuell herrscht eine erneute (und heftige) Debatte darüber, wie sich die Inflation entwickeln wird. Die erhältlichen Prognosen füllen das gesamte Spektrum der möglichen Antworten.
Die globale Finanzkrise wurde nicht gesehen, obwohl diese zum Greifen nahe war.
Viele Experten sind sich einig, dass die Immobilienpreise stabil sind und auch weiterhin wachsen. Die Deutsche Bundesbank hingegen warnt vor einer Immobilienblase, und dass insbesondere Immobilien in Städten bis zu 40% überbewertet sind. Wer hat nun Recht?
Ein Fülle weiterer Beispiele liefert das Buch "Die Berechnung der Zukunft: Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen". Dort analysiert Nate Silver zahlreiche Prognosen von namhaften Experten und erklärt, warum sie meist falsch sind.
Es gibt zwei sehr schräge Auffälligkeiten rund um Prognosen:
Rückschaufehler: Im Nachhinein glauben wir häufig, dass ein eingetretener Sachverhalt schon im Vorhinein hätte gesehen werden müssen. So blicken viele auf den Dax-Crash im Februar/März 2020 zurück, als dieser innerhalb eines Monats um 40% nach unten rauschte. Viele sagen nun "War ja klar, dass der wieder nach oben geht". Ich möchte bei der Aussage losschreien: Nein, das war es nicht! Bei der Aussage "War ja klar..." stellen sich bei mir übrigens direkt die Nackenhaare auf, denn es folgt sehr häufig Unsinn.
Noise: Wenn man mehrere Experten um eine Prognose zum gleichen Sachverhalt bittet, dann bekommt man viele unterschiedliche Antworten. Betrachten wir den hypothetischen Fall, dass wir den Wert einer Immobilie von 100 Experten schätzen lassen würden. Alle Experten sind sehr gut ausgebildet und haben langjährige Erfahrung. Wir würden davon ausgehen, dass die Expertenschätzungen sehr nahe beisammen sind. Das Gegenteil wird der Fall sein: es wird heftige Abweichungen geben. Diese Streuung von Einschätzungen wird in der Fachsprache als "Noise" bezeichnet und verursacht massive wirtschaftliche Schäden durch Fehlentscheidungen, wie Kahnemann et al. in ihrem neusten Buch "Noise - Was unsere Entscheidung verzerrt" sehr bildlich darlegen.
Dieser Artikel soll nicht implizieren, dass Prognosen generell schlecht sind, sondern nur, dass man sich nicht blind darauf verlassen sollte. Im Gegenteil sogar, Prognosen sind äußerst wichtig, um zumindest ansatzweise in die Zukunft zu blicken, und um qualitativ hochwertige Entscheidungen zu treffen. Der Gesetzgeber hat diesen Umstand schon lange erkannt und mit der "Business Judgement Rule" sogar verpflichtend eingeführt: Entscheidungen sind vom Vorstand/Geschäftsführung auf angemessenen Informationen zu treffen (Reminder: Die Unternehmensführung verwaltet fremdes Kapital und sollte damit nicht nach Belieben verfahren). Unter angemessene Informationen sind auch Prognosen zu verstehen. Vielen ist nicht klar, dass ein Verstoß dagegen zur Privathaftung der Geschäftsführung führen kann; ein Ausdruck, der Betriebswirten den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Auch ist vielen nicht bewusst, dass diese Privathaftung auch noch nach 10 Jahren eintreten kann und man als C-Level-Entscheider daher sehr gut beraten ist, für sämtliche unternehmerischen Entscheidungen eine Entscheidungsvorlage anfertigen zu lassen (gerne vom Controlling) und diese als Dokumentation sehr gut und unvernichtbar zu archivieren; aber das nur als Nebeninfo.
Es würde den Rahmen von diesem Blog-Artikel bei Weitem sprengen, wenn ich nun detailliert über Maßnahmen und Hilfestellungen reden würde. Vielleicht kann ich aber den ein oder anderen Quick-Win für Entscheidungen - die auf Prognosen basieren - mitgeben. Man kann sich vor jeder Entscheidung die folgenden Fragen stellen
Kritische-Reflektion: "Was ist, wenn meine Prognose falsch ist"?
Worst-Case-Betrachtung: "Was kann im schlimmsten Fall passieren"?
Premortem-Analyse: "Warum könnte sich diese Entscheidung später als falsch herausstellen?"
Resümee: Viele Entscheidungen sind zu wichtig, um diese uninformiert aus dem Bauch heraus zu treffen. Ob sich eine Entscheidung im Nachhinein als richtig oder falsch herausstellt wird der Zufall bestimmen. Den Zufall kann man mit Prognosen zumindest teilweise berechnen, man sollte aber nicht zu viel Vertrauen investieren. Wie sagte Mark Twain so schön: "Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen".
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